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Politik

Vom bösen und guten Atom

Thema Fukushima bestimmt die Wahlen in Japan / Herforder Amtsarzt unterstützt Atomkraftgegner


VON JULIA GESEMANN


Herford/Hiroshima. Zwei Leidenschaften: Japan und erneuerbare Energien. Am Revers steckt ein „Atomkraft – nein, danke“-Anstecker, ein anderer mit japanischen Schriftzeichen heftet an der Jacke. Das Wissen um die Gefahren der Atomenergie haben Dr. Martin Sonnabend zum Aktivisten gemacht. Ein Aktivist, der nicht nur „dagegen“ sein will, das sei auf Dauer zu nervig. „Ich suche lieber nach Alternativen.“ Über die hat der Amtsarzt, Internist und Umweltmediziner des Gesundheitsamts Herford auf seiner dreiwöchigen Japan-Reise referiert.


„Die Japaner unterscheiden zwischen bösem und gutem Atom“, sagt Sonnabend, der in Hiroshima am 20. Weltkongress der internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) teilgenommen hat und Mitglied des IPPNW-Bundesvorstands ist. Zum bösen Atom gehören die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki, zum guten Atom zählen die Atomkraftwerke (AKW). „Diese fördern die Wirtschaft und garantieren die Unabhängigkeit bei sonstiger Ressourcenknappheit“, erklärt Sonnabend. „Selbst die Ärzte unterscheiden so – das geht gar nicht.“


Atomwaffen und AKW seien gleich gefährlich. „Die Japaner wollen das nicht wahrhaben – auch nach Fukushima nicht.“ Auf dem Kongress sei das Thema Fukushima gemieden worden. „Linientreue Professoren haben Vorträge der Energiekonzerne gehalten – wenn es nach denen geht, war das alles nicht so schlimm.“ Dass viele Menschen nach der Atomkatastrophe erkrankt oder gestorben sind – „das wird verschwiegen“.


Mittlerweile hat Betreiber Tepco zugegeben, dass Gefahren bewusst verharmlost wurden, um eine Schließung des AKW zu vermeiden. Und auf dem Kongress haben sich die Japaner erstmalig für eine Überprüfung der „Null-Lösung“ ausgesprochen. Bis zum Jahr 2030 wollen sie aus der Atomenergie auszusteigen. „Im November sind Neuwahlen“, sagt Sonnabend. „Viele der Japaner sind mittlerweile sensibel und halten solche Aussagen für reine Wahltaktik – sie glauben kein Wort mehr.“ Und sie wollen nicht mehr stillschweigend zusehen. Die japanische Anti-Atomkraft-Bewegung – seit 30 Jahren nur im Untergrund stattfindend – wird seit Fukushima stärker.


Auf seiner Reise trifft Sonnabend einen ehemaligen AKW-Angestellten, der jetzt der Anti-AKW-Bewegung angehört. Er plaudert aus dem Nähkästchen: Pfusch beim Bau, Instandsetzungen ohne Strahlenschutz, Sicherheitsmängel. „Durch permanente Verstrahlung bröselnder Beton wird notdürftig nachgebessert“, sagt Sonnabend. Vor Verstrahlung sollen Stoff- und Plastikhandschuhe schützen. „Er hat uns sein Gesundheitsbuch gezeigt, mehr als 80 Prozent der Inhalte sind getrickst.“


Sonnabend lernt auch den Priester Tetsuen Nakajima, Abt des Myotsuji-Tempels, kennen. Er ist einer der bekanntesten Anti-AKW-Aktivisten des Landes. Schon 1995 warnte er vor den Gefahren der Atomtechnologie. Als trotzdem 15 AKW in seiner Präfektur Fukui nördlich von Tokyo an der „japanischen See“ in Betrieb genommen wurden, protestierte er mit einem wochenlangen Hungerstreik. Seine Aussagen hat Sonnabend im Reisetagebuch festgehalten.


„Es gibt eine neue Form des Kolonialismus, eine Art nationalen Atomenergie-Kolonialismus“, sagt Tetsuen Nakajima. „Wirtschaftlich benachteiligte und sozial schwache Präfekturen am Meer werden gedrängt, den Bau und Betrieb von AKWs zuzulassen.“ So auch die Stadt Tsuruga, in der zu zwei bestehenden zwei neue AKWs hinzukommen sollen. „Dafür wurde der Stadt ein ,Zaubergeld‘ in Höhe von 210 Millionen Euro in Aussicht gestellt.“ Obwohl es nur vorläufige Pläne gebe, wurden bereits 70 Millionen Euro vorab an die Stadt überwiesen. Das schnelle Geld zeige beim Bürgermeister Wirkung, die Angst um den Arbeitsplatz komme hinzu, so der Priester. Offene Bestechung und verdeckte Korruption – nichts Ungewöhnliches.


Davon sollten sich die japanischen Bürger aber nicht abhalten lassen, wünscht sich Sonnabend. „Sie dürfen nicht auf die Politik warten.“ Die Zeit dränge. „Japan weiß nicht mehr wohin mit dem atomaren Müll, die Zwischenlager sind voll.“ Mittlerweile würden um die AKWs herum Hallen gebaut, in denen der Müll gelagert wird. „Ein Zwischenlager ohne ein Endlager ist de facto ein Endlager.“


Sonnabend hat die Hoffnung, dass er mit den Vorträgen über erneuerbare Energien Impulse setzen konnte, denn damit kennt sich der Rödinghausener aus. Er ist Vorsitzender der Friedensfördernden Energie-Genossenschaft Herford und hat in Rödinghausen dazu beigetragen, dass 2008 eine Bürger-Solaranlage auf dem Dach der Gesamtschule ans Netz ging. 68 Rödinghausener beteiligen sich daran. Bis heute konnten 155.000 Kilowattstunden geerntet werden.


Es sind solch kleine Projekte vor Ort, zu denen Sonnabend die Japaner ermutigen möchte. Das Ziel: regionale Energieautonomie, unabhängig von großen Konzernen. „Energie wird selbst produziert, die Bürger bestimmen mit und das Geld sowie Arbeitsplätze bleiben in der Region.“ Japan sei ein ideales Land dafür – Wind an den Küsten, Flüsse für Wasserkraft. „Aber sie haben bislang nur wenig Erfahrung damit und schauen, wie Deutschland es macht.“ Sein Wunsch für das Land, das er so schätzt: „Japan, das Land der aufgehenden Sonne(nenergie).“


Das Geständnis kommt viel zu spät: Tepco, Betreiber des Atomkraftwerks Fukushima, hat zugegeben, die Gefahr für das AKW bewusst verharmlost zu haben. In Japan wird die Anti-Atomkraft-Bewegung stärker.


© 2012 Neue Westfälische
09 - Herford, Montag 15. Oktober 2012